Barrieren vor der Arztpraxis – Brennpunkt in der Apotheken Umschau


Dieser Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe der Apotheken Umschau ( 19/08 , S. 20)

Brennpunkt – Barrieren vor der Arztpraxis

Teilhabe Menschen mit Behinderungen werden durch eine EU-Richtlinie künftig besseren Zugang zu digitalen Produkten erhalten. Zu Gebäuden der Privatwirtschaft allerdings nicht.

Vier Jahre wurde verhandelt. Im Frühling hat das Europäische Parlament nun eine Richtlinie beschlossen, die rund 80 Millionen Menschen mit Behinderungen das Leben erleichtern soll. Sie verpflichtet Firmen in der EU zu barrierefreien Produkten. Notruf- und Mobiltelefone, Computer, Fernseher, elektronische Lesegeräte, Geld- und Fahrkartenautomaten werden künftig für Personen mit Beeinträchtigungen leichter zu bedienen, Bankgeschäfte einfacher abzuwickeln sein. In spätestens sechs Jahren müssen die EU-Staaten die Vorgaben umgesetzt haben. „Wir sind froh, dass ein Fuß in die Tür gestellt wurde“, sagt Dr. Sigrid Arnade, Koordinatorin der Sprecher des Deutschen Behindertenrats. Lange war ungewiss, ob die ­ europäischen Entscheider überhaupt eine Einigung erzielen würden. Jedoch hätte sich der Behindertenrat umfassendere Vorgaben gewünscht. Er kritisiert, dass Regelungen zu Baumaßnahmen, Tourismus und öffentlichem Nahverkehr fehlen. Arnade: „In einem früheren Entwurf ging es allgemein um Barrierefreiheit. Im Lauf der Verhandlungen wurden die Ziele abgespeckt.“

Deutschland ist bereits 2009 der UN- Behindertenrechtskonvention beigetreten, die die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben verankert. Seither wurde unter anderem ein Nationaler Aktionsplan angeschoben. Er beinhaltet neben digitalen, finanziellen und sozialen Maßnahmen auch bauliche. Zum Beispiel können private Eigentümer und Mieter Zuschüsse beantragen, um Wohngebäude barrierefrei zu machen – unabhängig vom Einkommen und Alter. 75 Millionen Euro pro Jahr sind dafür bis 2022 vorgesehen. Jürgen Dusel, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, will weitergehen: Neue Gebäude sollten künftig grundsätzlich entsprechend geplant und errichtet werden, fordert der Jurist, der seit Geburt stark sehbehindert ist.

„Wir haben unter anderem dafür zu sorgen, dass wir mehr bezahlbaren, barrierefreien Wohnraum bekommen.“ Barrierefreiheit habe schließlich viel mit sozialer Gerechtigkeit und  Chancengleichheit zu tun. Ausgerechnet beim Zugang zu Arztpraxen ist man von diesem Ziel in Deutschland noch sehr weit entfernt. „Die eigentlich gesetzlich garantierte freie Arztwahl existiert für uns nicht. Wir müssen die Praxis nehmen, in die wir hineinkommen“, kritisiert Sigrid Arnade, die sich aufgrund einer fortschreitenden Erkrankung seit über 30 Jahren mithilfe eines  Rollstuhls fortbewegt.

Rund 100 000 Arztpraxen gibt es in Deutschland. Die Mehrzahl davon ist lediglich über Stufen oder Treppen zu erreichen. Nur gut ein Drittel hat ­ einen barrierefreien Zugang, entsprechend   eingerichtete Räume oder ein Leitsystem für Menschen mit Sehbehinderung. Bei Medizinischen Versorgungszentren sieht es besser aus: Knapp 46 Prozent dieser Einrichtungen erfüllen zumindest einige Kriterien der Barrierefreiheit von Gebäuden. Diese Zahlen gab die Bundesregierung im Mai 2018 bekannt und berief sich dabei auf die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) als Quelle.

„Wir setzen uns auf vielfältige Weise für möglichst barrierefreie Praxen ein“, sagt Dr. Roland Stahl, Sprecher der KBV. Als Beispiel nennt er eine Broschüre, die niedergelassenen Ärzten dazu zahlreiche Tipps und Ratschläge an die Hand gibt. Stahl: „Oft sind es schon kleine Veränderungen, die weiterhelfen können.“ Etwa große, gut lesbare Beschriftungen an den Türen für sehbehinderte Patienten.
Umfangreichere Maßnahmen dagegen sind oft entsprechend schwerer umsetzbar. Für den Einbau eines Aufzugs zum Beispiel können Ausgaben von weit mehr als 100 000 Euro anfallen. „Solche enormen Investitionskosten darf man nicht allein den Ärzten aufbürden“, sagt Stahl. Deshalb fordere die KBV hier schon seit Langem finanzielle Unterstützung. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans wird das auch in Betracht gezogen. „Derzeit wird geprüft, wie ein Programm ,barrierefreie Arztpraxen‘ finanziert werden könnte. Es finden innerhalb der Bundesregierung Gespräche  statt, ob und in welcher Höhe dafür neben Mitteln aus den gesetzlichen Krankenversicherungen auch Steuermittel zur Verfügung gestellt werden können“, heißt es aus dem  undesgesundheitsministerium. Mit Ergebnissen sei Ende des Jahres zu rechnen. Sigrid Arnade kennt solche Versprechen. „Sie werden uns seit Jahren gemacht, wie eine Wurst, die vor eine  Hundenase gehalten wird.“ Sollte allerdings tatsächlich ein Förderprogramm aufgelegt werden, müssten es auch Apotheker, Physio- und Ergotherapeuten in Anspruch nehmen können, um den  Zugang zu ihren Räumlichkeiten ebenfalls zu verbessern.
Der Behindertenrat wünscht sich außerdem, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen der Bundesländer Barrierefreiheit zur Bedingung machen, wenn Arztpraxen übergeben oder neu eröffnet werden. KBV-Sprecher Stahl hält das jedoch für kontraproduktiv. „Solche regelhaften Vorschriften würden
auf potenzielle Nachfolger abschreckend wirken.“ Das bereits bestehende Problem vieler Regionen, Praxen zu besetzen, könne sich dadurch noch verschärfen. Andererseits ist Barrierefreiheit ein Menschenrecht. Und vom ungehinderten Zugang zu Arztpraxen, Geschäften und weiteren Gebäuden der Privatwirtschaft würden nicht nur die rund zehn Millionen Bundesbürger mit Behinderung profitieren, sondern auch ältere und gebrechliche Personen sowie Eltern, die mit kleinen Kindern und Buggy unterwegs sind.
Dr. Achim G. Schneider
„Die gesetzlich garantierte freie Arztwahl existiert für Menschen mit Behinderung nicht“
Dr. Sigrid Arnade, Sprecherratsvorsitzende des Deutschen Behindertenrats
20.08.19 V2.50 / 1995-2018

Gerne Teilen!




Veröffentlicht am 20. August 2019 von Redaktion
Kategorien: Allgemein


 |